Der japanische
Straßenraum in Bild und Schrift
Mit Japans Straßenraum assoziieren wir
ein belebtes Straßenbild, reich an Eindrücken in Farbe
und Schrift. Diese Bilder beruhen auf Filmen, Zeitschriften, Reportagen
und Fotografien, die den japanischen Straßenraum mit seinen
Besonderheiten häufig thematisieren. Darüber hinaus
wissen wir, dass der halböffentliche Straßenraum traditionell,
z.B. in der Malerei, eine wichtige Rolle spielt. Die Wahrnehmung
und Struktur des Straßenraumes mit seinen Hintergründen
wird im Folgenden, auch
in Bezug auf Orientierung und Fortbewegung auf der Exkursion beschrieben.
RÄUMLICHE GRUNDSTRUKTUR DER STRASSEN
Tokyo ist nicht, wie europäische
oder amerikanische Städte, durch ein Straßennetz geprägt,
in dem die Gebäude untergeordnet ist, sondern im Gegenteil,
durch Gebäudeblöcke, deren Zwischenräume das Gerüst
für das Straßennetz bilden. Die Rolle des europäischen
Straßennetzes, nimmt in Tokyo das Schienennetz ein. Die
Bahnhöfe befinden sich meistens inmitten großer Departementstores
und definieren die Zentren der Stadt. Die Wege von den Bahnsteigen
bis in die Abteilungen der
Warenhäuser sind nicht zufällig kurz. Den Eigentümern
der wichtigsten U-Bahngesellschaften gehören auch die Bahnhöfe
und die großen Warenhäuser. Hier geht es auf der einen
Seite um wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmer und auf der anderen
Seite um die hohen Ansprüche der Bevölkerung bezüglich
Effektivität auf engstem Raum. Die Züge und U-Bahnen,
die alle Viertel und die großen Zentren in hoher Taktung
erschließen und gut miteinander verbinden, stellen das schnellste
Transportmittel dar, um die oft großen Distanzen zwischen
Wohnort (Schlafstelle) und Arbeitsplatz (und individuell in den
Stadtraum verteilten Wohnraum) zu überbrücken.
Die Zeit im Zug kann effektiv zum Schlafen, Manga lesen, Schminken
und SMS schreiben genutzt werden. In Zahlen ausgedrückt,
sind es alleine an den Bahnsteigen der größten Stationen
Shibuja, Shinjuku und Ikebukuro im Schnitt 4,5 Mio. Menschen,
die morgens aus den Zügen und abends in die Züge einsteigen.
Sich mit dem Auto fortzubewegen kann kompliziert und chaotisch
sein und wird erschwert durch Staus, mangelnde Parkplätze
und teure Parkgebühren. Zudem fehlt die praktische Nähe
zu den Läden, an die die Japaner gewöhnt sind, die Möglichkeit,
nebenbei auf dem Heimweg, alltägliche Pflichten zu erfüllen
und Besorgung
zu machen. Die großen Stadtautobahnen, die räumlich
isoliert, die Stadt
oft aufgestelzt durch-/überqueren, sind zudem gebührenpflichtig
und schlecht an die großen Zentren angebunden, obwohl nicht
selten Überschneidungen zwischen Stadtautobahnen und „Superzentren“
bestehen.
Für die Fußgänger ist der Straßenraum voll
organisiert. Ampeln, Leitsysteme, Rolltreppen und Fahrstühle
lenken und befördern die Menschenmassen durch die vielen
Ebenen des Stadtraumes. Sonntags – wenn die großen
Zentren am dichtesten sind – bleiben die Straßen autofrei.
All diese Bewegungen durch den Stadtraum ergeben, gemeinsam betrachtet,
ein dreidimensionales Ebenen- System, das sich inhaltlich und
programmatisch bis in die Strukturen der Läden und Kaufhäuser
fortsetzt. Die Massen werden rauf und runter, drunter und drüber,
rein und raus durch die „Superdichte“ geleitet. Festzustellen,
ob man drinnen oder draußen ist und in welcher Etage man
sich befindet, scheint oft nicht möglich zu sein.
Das traditionelle Ineinandergreifen von privatem und öffentlichem
Raum in Japan, findet auch in den „Sakariba“ (besonders
belebte Gebiete) seine Fortsetzung. Reklame Panele greifen in
den öffentlichen Raum hinein, Nischen zu den Aufzügen
nehmen den öffentlichen Raum auf, schmale Spalten zwischen
den Häusern verhindern Konflikte unter den Besitzern bei
baulichen Erneuerungen, die in Tokyo an der Tagesordnung sind
- und enge Gassen führen in die Tiefe. Die Bewegung in die
Horizontale dieser schmalen Wege, die traditionell geprägt
sind von kleinen Läden und Handwerkerbetrieben, wird mehr
und mehr abgelöst von einer Bewegung in die Vertikale, die
ihren Höhepunkt in den hoch aufgeständerten Werbeschildern
findet.
Die Sakariba sind programmatisch aufgeteilt in drei Ringe. Der
erste umfasst den Bahnhof und die großen Warenhäuser,
der zweite ist charakterisiert durch kleinere Läden, Patchinko-Spielcasinos
und Karaoke-Bars und der dritte ist vor allem geprägt durch
Sex-Shops und Videotheken. Wie diese belebten Gegenden wahrgenommen
werden, wird im Folgenden beschrieben.
WAHRNEHMUNG
Die Wahrnehmungen im Straßenraum
von Tokyo sind stark von Werbung geprägt. Mit verschiedenen
Arten von meist leuchtenden Schriftzügen wird für Firmen
geworben oder auf Geschäfte in den Gebäuden hingewiesen.
Große Unternehmen verwenden oft aufgestockte Plakatwände,
die ihren Firmennamen im typischen Schriftzug ohne Bezug auf die
Funktion des darunter liegenden
Gebäudes, weit sichtbar machen.
Eine weitere Art ist die lokale Werbung. An vielen Gebäuden
trägt ein 1,5m tiefer Anbau über die gesamte Höhe
der Fassade Werbetafeln, die erkennen lassen, in welchem der Stockwerke
sich welches Geschäft befindet. Die Ausweitung in die 3.
Dimension wird deutlich. Dieser „Vorbau“ lässt
sich auch an manchen mehrfunktionalen Gebäuden an Hauptstraßen
kleinerer Städte in Japan finden.
Zusätzlich zu starken visuellen Eindrücken wirken an
vielen Orten auch akustische Signale auf den Passanten ein. Vor
allem Firmen, die junge Menschen ansprechen wollen, benutzen Fassaden
als Projektionsfläche für Musikvideos und Werbeclips.
Oft bietet die bunte Fassade keine Einsicht auf den Laden oder
das angebotene Produkt selbst und lässt die eigentliche Architektur
verschwinden.
SCHRIFT
Die meisten Werbebotschaften beinhalten keine Bilder, Logos oder
Slogans. Es werden einzelne Schlagwörter verwendet. Dies
lässt sich u.a. im Sprachvolumen eines einzelnen der japanischen,
bzw. chinesischen Schriftzeichen Kanji’ erklären.
Wo im Deutschen eine Wortreihe steht und das Subjekt Kern dieses
Satzes ist, spannt ein einzelnes Kanji’ eine Sprachhülle
mit umfassenderer Bedeutung auf.
Oft lässt sich durch die Auswahl eines Schriftzeichen schon
auf die Qualität des Produktes schließen, da die Beschreibung
differenzierter ist. Ein weiterer Unterschied ist, dass die japanische
Sprache bzw. Schrift, Eindrücke, nicht Feststellungen äußert.
ORIENTIERUNG
Tokyos Straßen – ausgenommen Brücken und Hauptdurchfahrtsstraßen
- sind nicht durch einen Namen gekennzeichnet, wie wir Europäer
sie zur Orientierung in einer unbekannten Stadt verwenden. Zwar
gibt es eine geschriebene Adresse, aber die hat ausschließlich
postalische Bedeutung und ist nur teilweise auf den Realraum übertragen.
Diese Unschärfe in der Bestimmung
der Wohnung erscheint solchen (wie uns) unbequem, die sich an
die Festlegung gewöhnt haben, das Praktischste sei stets
das Rationalste (…). Tokyo erinnert uns indessen daran,
dass das Rationalste lediglich ein System unter vielen ist. Damit
Wirklichkeit beherrschbar wird (in unserem Fall die der Adressen),
genügt es, wenn überhaupt ein System existiert, und
wäre dieses System auch scheinbar unlogisch, übermäßig
kompliziert oder merkwürdig disparat:
eine gelungene Improvisation kann nicht nur, wie man weiß,
äußerst haltbar sein, sie kann auch die Bedürfnisse
vieler Millionen Einwohner befriedigen, die im übrigen alle
Perfektion der technischen Zivilisation gewohnt sind.
(Roland Barthes)
Die Postadresse eines Hauses in Tokyo ist
aus folgenden Teilen zusammengesetzt:
- ku – das Stadtviertel
- chó, machi – die Zusammenfassung mehrerer Blocks
- chóme – die Zusammenfassung weniger Blocks (Nummer
an Strommasten angebracht!)
- der Gebäudenummer
Bsp: 3 - 4 - 4 Nishi Meguro chó chóme Gebäude
ku
Ein geometrisches System mit Straßennummerierung, wie es
auch in New York verwendet wird, gibt es nur in Kyoto.
Auf der Suche nach einer bestimmten Adresse, bietet es sich an,
den Blockwart oder die Polizeistation des entsprechenden Blockes
aufzusuchen. Der Weg zum Ziel wird per Skizze, die anhand von
prägnanten Gebäuden, Ecken oder Schildern den Weg, ausgehend
von einem best. Punkt (z.B. U-Bahn Ausgangs) zum Ziel beschreibt,
erklärt. Diese Art Orientierungszeichnung findet man häufig
auch auf Visitenkarten von Läden, Ärzten etc. Auch Passanten,
die man auf der Straße nach dem Weg fragt, könnten
diese gezeichneten Adressen in einer kommunikativen Geste anfertigen.
Es ist immer ein Vergnügen jemanden
beim Schreiben zuzusehen, erst recht aber beim Zeichnen: in all
den Gelegenheiten, da jemand mir auf diese Weise eine Adresse
mitteilte, bewahrte ich die Geste meines Gesprächspartners
im Gedächtnis, mit der dieser den Bleistift umdrehte und
mit dem am anderen Ende angebrachten Radiergummi vorsichtig die
übertriebene Biegung einer Straße oder das Verbindungsstück
einer Brücke ausradierte; obwohl der Radiergummi der graphischen
Tradition Japans widerspricht, strahlte diese Geste doch etwas
Friedliches, Liebkosendes und Sicheres aus, ganz so, als folgte
selbst diese nebensächliche Handlung der Regel des Schauspielers
Zeami, wonach der Körper ‚mit größerer Zurückhaltung
arbeite, als der Geist’. In all dem ging es weit mehr um
den Akt der Mitteilung als um die Adresse selbst, und in meiner
Faszination hätte ich gewünscht, es möchte doch
Stunden dauern, mir diese Adresse zu geben.
(Roland Barthes)
Um sich zu orientieren, gibt es einige Hilfsmittel. In den unterirdischen
Gängen findet man Stadtpläne und Umgebungskarten, die
den Standort lokalisieren lassen.
Nur dort wird man von Zeichen zu den richtigen U-Bahnen geleitet.
Im Falle absoluter Orientierungslosigkeit, kann der verstörte
Tourist einfach abtauchen in dieses riesige unterirdische Orientierungssystem.
REFLEKTION IN DER KUNST
Die Straßen der Edo- Zeit,
die die großen Städte verbanden, waren ein beliebtes
Motiv in der japanischen Malerei und Holzschnittkunst. Sie waren
nicht nur für Reise und Handel gedacht, sondern auch für
strategische Zwecke der Samurai. Die wichtigsten Vertreter dieser
künstlerischen Auseinandersetzung waren Hokusai und Ando
Hiroshige, die besonders die malerischen Tokaido Straße
abbildeteten.
Sie war eine an der Küste entlang führende Straße,
die Edo mit Kyoto, der Residenz des Kaisers, verband. Entlang
der 550 km langen Straße gab es 53 Stationen, die man sich
als eine Art von Maut- und Raststätten vorstellen kann, bei
denen der Wegezoll bezahlt werden musste. Diese Stationen hatten
Übernachtungsmöglichkeiten und einfache Restaurants
und waren Grundlage für Ando Hiroshiges und
Hokusais Bildserien.
Heute existieren nur noch Teile der alten Straße und der
Zug hat eine wichtige Rolle in der Verknüpfung der beiden
Städte übernommen.
Um sich zu orientieren, gibt es einige Hilfsmittel. In den unterirdischen
Gängen findet man Stadtpläne und Umgebungskarten, die
den Standort lokalisieren lassen.
Nur dort wird man von Zeichen zu den richtigen U-Bahnen geleitet.
Im Falle absoluter Orientierungslosigkeit, kann der verstörte
Tourist einfach abtauchen in dieses riesige unterirdische Orientierungssystem.
ein Ausschnitt von „Map of
the Tokaido Road“. Hokusai kartierte 1818 die berühmten
Orte entlang der Straße; 25 Jahre bevor Hiroshige seine
erfolgreiche Serie „The fifty-three stations of Tokaido
Road“ veröffentlichte. „Travellers on theTokaido
Road at Hodogaya, Hokusai, ca. 1834 wie auf allen Bilder seiner
Tokaido-Reisen, bildet Hokusai den Fujiyama im Hintergrund ab.
FILME
the stratosphere girl, M.X. Oberg, 2004
graveyard of honour, Takashi Miike, 2002
lost in translation, Sofia Coppola, 2003
tokio story, Yasujiro Ozu, 1953
unlucky monkey, Hiroyuki Tanaka, 2003
LITERATUR
Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, Suhrkamp, 1970
Wolfgang Koelbl, Tokyo Superdichte, Ritter, 2000
Daidalos 44, Bertelsmann Fachzeitschriften, 15.Juni 1992
Hokusai, Brestel, München, 2004
Tokaido Road, Lucia Saint Clair Robson, Knaur, 1992
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