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Der japanische halböffentliche Raum

In dem folgenden Text setzen wir uns mit dem japanischen halböffentlichen Raum in Tradition und Entwicklung auseinander.
Um die Wahrnehmung bzw. das Verständnis für privaten und öffentlichen Raum in Japan besser nachvollziehen zu können sollte man sich kurz die Organisation japanischer Städte veranschaulichen. Hierbei gibt es einen wesentlichen Unterschied zu westlichen Städten bzw. Stadtstrukturen.
Europäische Städte z.B. sind weitestgehend durch ein, das Stadtbild bestimmende, Straßenraster organisiert. Straßen verlaufen meist linear, sich hier und da zu Plätzen öffnend, durch den urbanen Raum. Sie bilden ein, die ganze Stadt überspannendes, Netzwerk in dem jeder Ort durch Straßenname und Hausnummer bestimmt werden kann. Straßen bzw. Hausfassaden sind traditionelle Charakteristika die das Gesicht einer Stadt formen. Dabei hat besonders die Gestaltung der Straßenfronten eine große repräsentative Funktion.
In japanischen Städten hingegen werden Straßen eher als übrig gebliebener Raum zwischen den Häusern bzw. Häuserblöcken verstanden. Sie dienen einzig und allein als Verbindungselement um von a nach b zu gelangen. Lediglich an Brückenköpfen entwickelten sich so etwas wie öffentliche Plätze. Demzufolge wurde dem Straßenraum in Bezug auf ästhetische Gesichtspunkte auch nie große Bedeutung beigemessen. Im Gegenteil, besonders in den Wohngegenden schotten sich die Häuser gegenüber der Straße zumeist durch Mauern ab.
Auch die Orientierung in japanischen Städten folgt einem ganz anderen System. Als wichtigstes Gliederungselement fungieren die Häuserblöcke. Patchworkartig setzt sich die Stadt aus Machi, Cho und Dome zusammen. Nur die großen Straßen tragen Namen. Ortsbeschreibungen setzten sich immer aus Stadtviertel, Block und Haus zusammen.
Aus dieser flächigen Wahrnehmung der Stadt lassen sich Parallelen zur Definition der allgemeinen Raumwahrnehmung ziehen.
Auch der Raum in Gebäuden wird immer durch seine Grundfläche bestimmt. Nicht wie in Europa werden Räume immer durch Wände, also linear, begrenzt, die klar ein drinnen/draußen bzw. privat/öffentlich definieren, sondern diese Grenzen verschwimmen. Je nach Aktivität und Tageszeit wird der Raum z.B. durch Auslegen weiterer Strohmatten auf die Straße hinaus erweitert und auch wieder minimiert. Das Haus stellt also nur einen flexiblen Rahmen dar in dem die Raumgröße variiert. Dabei trägt die Beschaffenheit der Oberfläche stark zu ihrer Funktionswahrnehmung bei. Da sich alle Aktivitäten auf dem Boden abspielen weißt das Oberflächenmaterial oft auf die Funktion hin. Diese unterschiedlichen Prioritäten von Wand und Boden spiegeln sich auch im Dekor wieder. Wo in Europa die Wände reich verziert sind fällt dieser ästhetische Anspruch in Japan dem Boden zu.

Diese Raumwahrnehmung zeigt sich z.B. an kleinen Holzplattformen, die man in japanischen Parks finden kann. Das Besetzen dieser Plattform soll dem Nutzer die Öffnung eines ganzen Pavillons über ihm suggerieren.

Darüber hinaus werde ich Anhand der drei traditionellen japanischen Wohnformen die oft fließende Grenze von privatem zu öffentlichem Raum beschreiben.
Zum einen gab und gibt es noch die Buke-Yashiki Viertel. Diese dienten den Samurai und Krieger-Klassen als Wohnquartiere. Dabei waren ein oder mehrere Häuser auf einem Grundstück zusammengefasst. Im Gegensatz zu westlichen Traditionen waren sie jedoch nicht aus repräsentativen Gründen zur Straße hin ausgerichtet. Im Gegenteil, hinter hohen Mauern verborgen fand eine Abschottung nach außen statt. Die Pracht, der nach außen hin oft einfach wirkenden Gebäude, entfaltete sich im Inneren.
Betrat ein Besucher das Haus musste er zuerst an den Wirtschaftsräumen vorbei, um dann im hinteren Teil des Gebäudes die Repräsentationsräume zu erreichen. Diese befinden sich im Zentrum des Grundstücks aber im hinteren Teil des Hauses. Eine Besonderheit japanischer Häuser ist auch der Genkan, er ist quasi Verlängerung des öffentlichen Fußweges in das Wohnhaus hinein. Als Nische hinter dem Eingang befindet er sich auf Straßenniveau und dient als Raum um zumeist Schuhe oder auch andere, der Straße zuzuordnende, Gegenstände abzulegen. Er wird dem Außenraum zugesprochen und hat auch ähnliche Oberflächenqualitäten.
Eine weitere traditionelle Wohnform bildet das Machiya Haus. Hierbei handelt es sich um ein Stadthaus, das sowohl Wohnraum als auch Arbeitsstätten bzw. Geschäftsräume miteinander kombiniert. Diese Machiya befinden sich meistens auf sehr schmalen, weit in den Block hineinreichenden, Grundstücken. Dabei liegen an der Straßenseite die Verkaufsräume, an die sich nach hinten hin weitere Wohnräume im Wechsel mit Minigärten anschließen.
Tagsüber ist die gesamte Front geöffnet, was die Raumbegrenzungen des Geschäfts quasi aufhebt. Kunden können sich uneingeschränkt von der Straße in den Ladenbereich bewegen, was durch auf der Straße ausgestellte Waren noch verstärkt wird. Da die Straßen meist nicht breiter als 5-6 Meter sind hat man als Besucher bzw. Kunde oft das Gefühl sich durch die Privaträume der Ladenbetreiber zu bewegen. Dieser Eindruck entsteht auch durch die Durchlässigkeit der Raumunterteilungen, die oftmals den Blick bis hinein in die Privaträume zulassen.
Werden Feste veranstaltet so wird der eigene Raum kurzerhand durch vor dem Haus ausgelegte Strohmatten in den Straßenraum hinein erweitert bzw. durch absolute Öffnung Besucher ins Gebäude geleitet.
Nachts hingegen vermittelt die gleiche Straße einen komplett anderen Charakter. Die Waren wieder im Haus verstaut, werden abends Rollos hinuntergelassen und es tritt eine völlige Abschottung gegenüber dem Straßenraum ein. Jetzt vermittelt die vermeintliche Einkaufsstraße einen verschlossenen, tunnelartigen Eindruck.
Obwohl sich die Machiya Viertel im Laufe der Zeit verändert haben, wurden die den Charakter vermittelnden Grundprinzipien beibehalten. So hängen heutzutage zwar keine Lampions und Stoffbanner mehr an den Geschäften, jedoch werden auch die moderneren Neonreklamen nachts ausgeschaltet. Alte Holztüren wurden durch Metallrollos ersetzt, die nach wie vor nachts heruntergelassen werden.

Die Häuser der Nagaya Viertel stellen den dritten und häufigsten traditionellen Wohntyp dar. Im Rücken der an der Straße liegenden Geschäfte schlossen sich diese winzigen Reihenhäuser an. Diese lagen an extrem engen Gassen, die teilweise nicht breiter als 1,5m waren. Diese nachbarschaftliche Enge führte dazu, dass der Raum der Gassen gemeinschaftlich genutzt wurde. Er stellte eine halböffentliche Zone zwischen Außenraum und Privatbereich dar. Oftmals ermöglichten kleine Tore auch die Abtrennung der Gasse gegenüber der Umgebung. Die gemeinschaftliche Nutzung bezog sich aufgrund der extremen Enge des Wohnbereichs, der traditionellerweise nur 4x3m bemaß (inklusive Eingangsbereich und Lagerraum), auf sämtliche Bereiche des alltäglichen Lebens. So gab es einen gemeinsamen Brunnen und Shrine und auch das Kochen und Waschen wurde in den Außenraum verlegt. Das Abwasser rann offen durch eine Rinne die Gasse hinab.

Die Nagaya Viertel wurden oftmals am Rande der Städte bzw. vor den besseren Quartieren angelegt um diesen als Pufferzone bei kriegerischen Angriffen zu dienen.
Im Laufe der Zeit gab es immer wieder Bestrebungen diese Wohnverhältnisse zu verbessern. So z.B. ein Reihenhausentwurf von Morse bei dem jede Wohneinheit einen eigenen Zugang zur Straße hat.
Aufgrund dieser Zielsetzungen von öffentlicher Seite her und den technischen Neuerungen wie z.B. Gaskocher und eigener Wasseranschluss hat sich die Situation verbessert. Die meisten Tätigkeiten wurden in die nun oft zweistöckigen Häuser verlagert und die Gasse dienete jetzt vornehmlich als Verbindung zu den einzelnen Häusern.
Trotz vieler Verbesserungen blieb die Enge und der minimale Wohnraum der Viertel erhalten, die zum großen Teil noch heute existieren.

Eine funktionell den traditionellen Nagaya Vierteln sehr ähnliche Struktur stellen die modernen Wohn- und Geschäftshäuser mit einem Funktionsmix bis in die oberen Stockwerke dar.
Eine besondere Form des öffentlichen Raums stellen auch die Arkaden über Einkaufsstraßen in japanischen Großstädten dar. Auf den ersten Blick sind sie denen in westlichen Städten sehr ähnlich, ihre Entstehung hat jedoch einen ganz anderen Ursprung.
Im Westen werden Arkaden immer als ein Element eines größeren Gebäudeverbandes geplant und realisiert. Sie dienen zumeist als Überdachung einer Einkaufsstraße und sind unabdingbar mit den Seitengebäuden verbunden. Hinzu kommt, dass hier meistens ein Bauherr die ganze Arkade realisiert und anschließend die einzelnen Geschäfte an unterschiedliche Betreiber vermietet.
Japanische Arkaden hingegen sind nachträglich über schon existierenden Einkaufsstraßen errichtet worden. Hier haben sich die Besitzer bzw. Betreiber der einzelnen Geschäfte nachträglich gemeinsam dazu entschlossen die Geschäftsstraße zu überdachen und somit ihren Kunden größeren Komfort zu bieten. Die überdachenden Arkaden stehen jedoch auf Säulen frei zwischen den Häusern und bilden somit eine, von den Fassaden unabhängige, Einheit. Die Eigenständigkeit der Arkaden wird auch durch ihren Verlauf deutlich. Es ist nämlich durchaus möglich, das eine Arkade über ihren Block hinausgeht oder sogar Querstraßen überbrückt.
Insgesamt vermitteln diese entstandenen Arkadenstraßen aufgrund ihrer relativen Enge einen sehr privaten Charakter.

Das heutige Stadtbild in den Wohnvierteln Tokios ist hauptsächlich von niedrigen Einfamilienhäusern gekennzeichnet. Die einzelnen Häuser wirken hermetisch abgeschlossen, da die blinden Fassaden oder die Mauern bis an die Grundstücksgrenze rücken. Der Abstand zwischen den einzelnen Häusern oder Mauern beträgt oft nicht mehr als einen halben Meter. Somit stehen sich Haus und Stadt als zwei Welten gegenüber. Diese nach innen gerichtete Architektur scheint aber in den letzten Jahren eine Wandlung zu vollziehen. Es werden immer mehr neue Materialien als Fassaden verwendet, die von der geschlossenen Wand über eine teilweise durchlässige Außenhaut bis hin zu einer räumlich und funktional überlagerten Zwischenzone reichen. Oft sind es transluzente Kunststoffelemente oder perforierte Paneele, die die Funktion der blinden Mauern einnehmen. So dringen trotz einer fensterlosen Fassade Licht und Geräusche der Stadt in das Haus hinein. Die Außenwelt ist somit zwar abgetrennt, aber nicht gänzlich abgeschnitten. Dadurch wird die Grenze zwischen Haus und Stadt auf unterschiedlichste Weise neu definiert.

Ein Beispiel hierfür ist das Haus Aura von F.O.B.A.. Aura meint die Erweiterung eines Körpers jenseits seiner eigentlichen Hülle. Hierbei geht es um die Erweiterung der Wohnfunktionen auf die Stadt. Wohnen außer Haus ist der weiteste Schritt in der Verflechtung von Haus und Stadt. Tokio bietet fast alle Funktionen des Wohnens auch in der unmittelbaren Umgebung. Das Angebot eines entleerten Raumes ist die Konsequenz aus der räumlichen Dichte und dem vielseitigen Dienstleistungsangebot Tokios. Was bleibt ist ein radikal abgerüstetes, von sichtbarer Technologie befreites Interieur. Aura ist Wohnen in seiner funktional reduziertesten Form, nur noch Raum ohne Programm.

Dies ist jedoch nur denkbar vor dem Hintergrund eines anderen Umgangs mit der Stadt. Die Grenzen des Privaten werden in Japan ganz anders gezogen. Die Tokioter verbringen mehrere Stunden am Tag in den U-Bahnen und Zügen und sind oft für den ganzen Wachzeitraum von ihren Wohn- und Schlafstätten abgenabelt. Aufgrund der horrenden Bodenpreise sind die Wohnflächen oft minimal und meist auf ihre Schlaf- und Lagerfunktion reduziert. Viele andere Wohnfunktionen sind ausgelagert und befinden sich irgendwo auf dem täglichen Weg durch die Stadt. Das Verlassen der Wohnung bedeutet zwar sich von seiner privaten Lagerstelle zu entfernen, doch wird man im Laufe des Tages an mehreren Stationen in der Stadt einkehren oder Infrastrukturen benutzen, die die Leistungen und Flächen stellvertretend für den fehlenden Raum bieten. Man ist nicht auf die Privatheit der eigenen Wohnung angewiesen. Wohnen findet eher in Form von mehreren isolierten, temporären Ereignissen statt.

Es werden zum Beispiel auch Bereiche und Orte als Wohnraum adaptiert, die auf den ersten Blick keinerlei Wohnannehmlichkeiten bieten. So sind U-Bahnen und Züge wichtige Bezugs- und Stützpunkte, in denen ein relativ großer Teil des Tages verbracht wird. Die meisten Pendler schaffen sich im dichtesten Gedränge ihren privaten Freiraum, indem sie sich mental aus ihrer Umgebung ausklinken und die Fahrzeit als Regeneration für den Geist oder für einen erholsamen Kurzschlaf verwenden. Die Fähigkeit die unwirtlichsten Orte für die eigenen Bedürfnisse zu adaptieren, gerät den Tokiotern zur Kunst, denn man erhebt keinen Anspruch auf die Umgebung. Der Fokus liegt immer auf dem Notwendigen, alles andere wird ausgeblendet und stört nicht. Man benötigt keine umgebene Gemütlichkeit, um sich wie zuhause zu fühlen.

Alles ist ausgerichtet auf den Menschen unterwegs beziehungsweise fern von seinem Basislager. Über Tokio hat sich ein dichtes Netz an gastronomischer Infrastruktur gespannt. Eigenhändig zuhause gekocht wird nur noch selten. Vor allem die verschiedenen Nudellokale findet man überall. Sie bestechen speziell durch die Raum- und Zeitökonomie, mit der sie angelegt sind. Weniger als zehn Minuten dauert in der Regel der Vorgang von der Bestellung bis zur Bezahlung.

In ähnlicher Dichte wie die Esslokale breitet sich ein Netz öffentlicher Toiletten über der Stadt aus. An jeder U-Bahnstation, in jedem öffentlichern Gebäude, in jedem Kaufhaus finden sich mehrere hervorragend gewartete Anlagen, die oft auch nur als Händewasch- oder Frischmachstation dienen. Da die eigenen Bäder oft sehr klein sind, ist dort oft nur das Allernotwendigste möglich. Um entspannt zu Baden und sich zu Pflegen, besucht man daher nach der Arbeit ein Sento (öffentliches Badehaus). Auch der Platz für eine Waschmaschine ist meist nicht da, daher geht man in einen der zahlreichen Waschsalons. Diese sind sehr billig und eine Gute Gelegenheit für eine kurze Pause.

Auch für die Abendgestaltung braucht man die eigene Wohnung kaum. Wenn man sich mit Freunden oder Geschäftskollegen trifft, besucht man eine der vielen Karaokebars. Mit der eigenen Frau trifft man sich eher im Lovehotel als im eigenen Schlafzimmer. Da die Innenwände sehr dünn sind, kann Sex problematisch sein, denn selbst das leiseste Geflüster ist für alle Mitbewohner und Nachbarn hörbar.

Speziell in Tokio findet man ein weiteres Netz, das sich über die ganze Stadt ausgebreitet hat. Es handelt sich um ein Netz mit Versorgungseinrichtungen, den so genannten Konbinis. Konbini leitet sich von dem englischen Begriff convenience-store ab. Dieses Netz wird immer dichter und zeichnet sich in der Flexibilität im Angebot und der Nähe zum Kunden aus. Jeder zählt zu den potentiellen Kunden. Angeboten wird fast alles: Produkte wie Lebensmittel, Sanitärprodukte, Büroartikel, Zeitungen, Zeitschriften, Tonträger, Computerspiele, Haushaltsartikel, etc. Neu hinzugekommen sind Dienstleistungen wie Bank-Terminals, Reise- und Eventveranstalter, Autoverleih, Geschenk- und Paketversand, Postdienste, Filmentwicklung, Kopieren, Faxen, etc. Der Hauptumsatz eines Konbinis wird mit Fertigimbissen gemacht. Zu Mittag wird das Angebot kurzfristig um große Mengen frisch zubereitete Speisen erweitern, die in kompakten Boxen (Bento) angeboten werden. Die Konbinis sind alle ähnlich aufgebaut, so dass sich beim Betreten ein gewisses Heimatgefühl einstellt – kennst du einen kennst du alle.

Somit ist die neue aktuelle Wohnform in Tokio die Stadtnomade, die über den Tag verteilt Wohnfunktionen fragmentiert konsumiert.

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