Eine Lebensform der Zukunft? Der Otaku
von Volker Grassmuck April 1999
Für Dirk Matejovski (Hg.), Neue, schöne Welt?
Lebensformen der Informationsgesellschaft
Heitkamp Edition, Herne 1999, S.157-177
“I got a hole in my soul about 100 feet wide.
I got my mind on the run like an optical drive.
What´s the year? It´s the 90s.
Do not feed the alligators. They will bite you.
Life´s a bitch”
(Dream Warriors)
Es überrascht nicht, daß in einer medial verschalteten Welt, die viele als 'Informationsgesellschaft' bezeichnen, die Forderung nach einem authentischen, unvermittelten Miteinandersein erhoben wird. All die Formen der Fernanwesenheit und des Fernhandelns, der virtuellen Gemeinschaft und der virtuellen Unternehmen mögen praktischen Nutzen haben, bei den meisten, noch vor dem Anbruch der Digitalität Sozialisierten provozieren sie meist schon nach kurzem Gespräch ein Lob des Leibes und des Gesichts, das sich dem anderen Gesicht darbietet. Diese Kritik wird heutzutage freilich nicht mehr im Namen einer Romantik geführt. Ein unverkünstelter, unvermittelter, natürlicher Weltbezug ist nicht wirklich ihr Gegenbegriff, dennoch gründet ihr Unbehagen in dem Gefühl, eine von Menschen geschaffene Welt sei nicht menschlich.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die den Verkehr mit dem Künstlichen und Kunstfertigen, wenngleich auch nicht unbedingt dem Künstlerischen, dem mit anderen leibhaftigen Menschen vorziehen. Sie finden ihre Erfüllung in der Welt der Dinge und der Informationen. Eigenbrötler, ungesellige Bastler, verschrobene Sammler hat es zu allen Zeiten gegeben, doch nie gab es mehr Möglichkeiten, zu sehen und zu operieren, ohne Tuchfühlung aufzunehmen. Nie gab es mehr Armaturen der Sinne, komplexe Mikrowelten, Informationen ohne Informanten. Was dem humanistischen Geist an der Maschine als tragische Unversöhnlichkeit erscheint, ist der mit Fernsehen, Fax und Famicon aufgewachsenen Generation zweite Natur.
Jugendliche am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich aus der Leibwelt ihrer Eltern in eine vernetzte digitale Sphäre abgesetzt. Auch Älteren ist das Cocooning nicht fremd, das mit einer Krise des öffentlichen Raumes einhergeht. Urbane Gewalt und Heimarbeit, Pizza-Lieferdienste und Telefonsex stellen die Rahmenbedingungen dar für ein Dasein, das in einer Schutzhülle, vielleicht besser: einer distanzierenden Dreimeilenzone eingesponnen ist. Für die Jugendkulturen, von denen hier die Rede sein soll, ist die Distanz nicht nur zu anderen Kultursegmenten, sondern selbst zu ihren Altersgenossen zum Namensgeber geworden.
Der Otaku ist ein zurückgezogenes, scheues Wesen, das monomanisch einem Interessengebiet nachgeht, in dem Bestreben, dieses vollkommen zu beherrschen, darin Meisterschaft zu erlangen und dafür nur zu bereitwillig den Preis zu zahlen, alles andere völlig auszublenden.(1) Das Wort, wenn auch nicht das Phänomen, hat sich aus der japanischen Populärkultur in aller Welt verbreitet. "Otaku" bedeutet in der japanischen Alltagssprache nicht mehr als "Haus" und in Übertragung ("Ihr Haus") "Du" oder "Sie". Das Japanische ist sozial ungleich differenzierter als das Deutsche und erfordert, daß ein Sprecher seine Stellung zum Angesprochenen genau einschätzt, um aus Dutzenden von Personalpronomen das angemessene zu wählen. Fehlen ihm Informationen, um den rechten Grad von Vertrautheit, Höflichkeit oder Unterordnung zu treffen, kann er auf das neutral-höfliche otaku zurückgreifen. Es überbrückt eine Unbestimmtheit. Wird es unter Bekannten verwendet, kann es Ironie oder Sarkasmus ausdrücken. Dem Geschichtsmythos des Otaku-Phänomens zufolge ereignete sich der Verwendungswandel des Wortes zuerst unter den Sammlern von Anime-Bildern, den sogenannten Zellen, mit denen Zeichentrickfilme animiert werden. Mitte der achtziger Jahre begannen Jugendliche in diesen Kreisen einander mit otaku anzusprechen. "Zeig mir bitte deine (otaku-no) Sammlung." Darin drückt sich ein Grundgefühl von Distanz aus. Es signalisiert: "Bleib mir vom Leib." Am ehesten mag man sich das Befremden darüber vorstellen, wenn man an Teenager denkt, die sich gegenseitig siezen. Vom Wortstamm "Haus" her lassen sich die Otaku auch etwas salopp aber nicht unzutreffend als "Zuhauslinge" bezeichnen.
Otaku haben eine zerbrechliche körperliche und seelische Konstitution. Sie sind keine angry young men, sondern unsicher im zwischenmenschlichen Verkehr. Daher bevorzugen sie über-höfliche, defensive Redeformen, um keine Fehler zu machen, vor allem aber, um sich dahinter zu verstecken. So kommen sie damit durch, sich nicht zu exponieren, sich nicht preiszugeben und damit einer möglichen Zurückweisung und Enttäuschung auszusetzen.
Der Pop-Journalist Akio Nakamori sah diese neue soziale Beziehung als so charakteristisch, daß er 1984 den Begriff otaku-zoku prägte: den Otaku-Stamm oder die Otaku-Generation. Der Lebensstiltypus war bereits Ende der Siebziger weitverbreitet. Das neue Label erlaubte eine einheitliche, meist negativ konnotierte Außenzuweisung ebenso wie eine trotzige Selbstbezeichung für die verschiedenen Untergruppen der Jugendkultur. Als Otaku gilt jemand, der anderen nicht in die Augen sehen kann, der es vorzieht, alleine für sich zu sein und seinem Hobby nachzugehen, der keinen Wert auf sein Äußeres legt und seinem exklusiven Interessengebiet mit Besessenheit nachgeht. Der Gegenstand seiner Leidenschaft entstammt der Populärkultur. Anime oder Manga (Comics) gehören zu den Kernbereichen ebenso wie "Idole" (Teenie-Sänger und Sängerinnen aus der Retorte der Musikindustrie), Video-Spiele, Modellbausätze, Militaria, Technik im allgemeinen und speziell Computer. Doch auch von Aquariums-, Fußball- oder Gesundheits-Otaku ist inzwischen die Rede. Das Otakutum hat nichts mit einem bestimmten Thema zu tun, es ist vielmehr eine Art und Weise sich darauf zu beziehen.
Nicht die soziale Abkapselung allein ist somit charakteristisch für den Otaku. Ein weiteres zentrales Element ist sein Informationsverhalten. Da sich die Menge der veröffentlichten Information in immer kürzeren Abständen vervielfacht, muß jeder seine Strategie finden, diese Flut zu bewältigen. Eine Form von Parallelverarbeitung leistet die multiple Persönlichkeit, die die amerikanische Psychologin Sherry Turkle in ihrem Buch "Life on the Screen" beschreibt. Der Multiple läßt seine Aufmerksamkeit zwischen den Fenstern auf dem Bildschirm hin und her springen, zwischen einem Textverarbeitungs- und einem Mathematikprogramm für die Hausaufgaben, einem Online-Spiel, der elektronischen Post und einem Nachrichtenkanal. "Deine Identität im Computer ist die Summe deiner verteilten Anwesenheiten."(2) Im Gegensatz dazu ist der Otaku eine monomanische Persönlichkeit. Er betreibt eine Informationsstrategie der radikalen Beschränkung auf einen einzigen Weltausschnitt und blendet alles andere aus. Während der Multiple in den Strom eintaucht und möglichst viel über vieles wissen möchte, sucht sich der Otaku einen winzigen Gegenstandsbereich, über den er möglichst alles wissen will.
Eine Episode von einem der Otaku-Festivals macht diese Haltung anschaulich. Auf den größten dieser komike (eine Kontraktion aus "Comic Market") kommen zwei Mal im Jahr Hunderttausende dieser scheuen und ungeselligen Menschen auf einem Messegelände in der Nähe von Tokio zusammen. An den endlosen Tischreihen verkaufen vor allem Manga-Zirkel ihre Hefte, doch auch andere Otaku-Rubriken präsentieren hier ihre Produkte. An einem Stand blätterte ich in einer Zeitschrift mit Fotos von DDR-Leichtathleten. Als abgeschlossenes Sammelgebiet eignet sich das Thema besonders zur Anhäufung von nutzlosem Detailwissen, das auf eine Vollständigkeit zielt. Die wenig sportlich aussehende, etwa achtzehnjährige Verkäuferin fragte mich, ob ich die Abgebildeten kenne. Ich mußte passen. Ihre prompte Reaktion: "Kennst Du nicht? Tja, dann auf Wiedersehen." Keine Neugier auf den einzigen westlichen Ausländer weit und breit, keine Konversation und keinerlei Bekehrungswillen. Eine Kommunikation über das engumrissenen Otaku-Fachgebiet hinaus findet nicht statt.
In der sogenannten Informationsgesellschaft herrscht als Grundgefühl ein schlechtes Gewissen vor, sich nie genug informiert, nie genug kommuniziert zu haben. Dem Schrecken des Immer-Neuen entzieht sich der Otaku durch eine andere Form der Aufmerksamkeitsökonomie. Er zielt auf abgeschlossene Systeme, an die man glauben kann. Er schafft Inseln im Meer der Information, auf denen man sich sicher fühlen und auf alles vorbereitet sein kann. Der Sammler, der Bastler, der Spieler und der Fan sind anthropologische Grundmuster. Wird eines von ihnen monomanisch und beschränkt auf einen winzigen Weltausschnitt gelebt, spricht man in Japan und anderswo von einem Otaku. Im Inneren des Kokons vollzieht sich keine Metamorphose, kein Schmetterling bricht schließlich daraus hervor, um sich die Welt zu erobern. Das Gespinst mit seiner Vielzahl von elektronischen Anschlüssen ist ihnen Wohnstatt geworden.
Genese eines Lebensstils
Als sozialpsychologische Figur ist der Otaku erst möglich mit dem Versickern der Verbindlichkeit von Sozialisationsumgebungen. Selbst die hautnahen Wirklichkeitsproduktionsmaschinen wie die Familie und die Arbeit werden kontingent. Otaku leben z.T. bei ihren Eltern, aber kommunikationslos. Sie machen keine Karriere, sondern Jobs. Jede Zuordnung zu sozialen Zusammenhängen wird optional. Das 'operativ geschlossene System' als Endprodukt sozialer Desintegration lebt unter dem Motto "Allein aber nicht einsam".
Zur Erklärung des Otaku-Lebensstils werden zumeist die japanische Familienstruktur, das Bildungssystem, die Perspektiven in der Arbeitswelt und natürlich die Medien angeführt.
Jean-Jacques Beineix, der Regisseur von "Diva" und "Betty Blue", widmete sich in seinem Reportagefilm "Otaku" von 1994 dem Phänomen. Darin sagt Psychiatrieprofessor Takahashi, die Mutterbindung der Japaner werde "häufig zu einer unüberwindlichen Hürde, die der Emanzipation der Kinder und ihrem Reifungsprozeß im Wege steht, besonders im Falle der Otaku. Ich bin mir sicher, daß dieses Phänomen in Japan stärker ausgeprägt ist als anderswo. Eigentlich ist das sogar einer der Hauptunterschiede zwischen Japan und dem Westen."(3) Solche Aussagen gehören zum Grundbestand der Japankunde, sind aber in dieser Pauschalität, zumal wenn sie als Sonderstellungsmerkmal gegenüber anderen Kulturen eingesetzt werden, mit Vorsicht zu genießen. Fraglos aber stellt der mit seiner Firma verheiratete, abwesende Vater kein Rollenvorbild für die Heranwachsenden dar. Wahrscheinlicher ist es, daß technische Apparate an die Stelle der sorgenden Mutter treten. Der Wirtschaftswissenschaftler und Kulturkommentator Akira Asada diagnostiziert eine Verschiebung in der Imagination des Science-Fiction von der paternalistischen Dystopie eines Big Brother, z.B. in Orwells "1984", hin zur maternalen umhegenden Figur eines 'Mutter-Computers', der ein 'Mutter-Schiff' oder eine 'Mutter-Stadt' kontrolliert. An den Videogames zeige sich eine Infantilisierung durch eine Art von elektronischem Mutterschoß.(4) Eine solche Genderisierung der Technik erscheint auch vor dem Hintergrund einer ausbleibenden Übertragung auf das andere Geschlecht plausibel. Für männliche Otaku treten Junggesellenmaschinen an die Stelle von leibhaftigen Mädchen. Unter den Mädchen ist das yaoi-Genre(5) das beliebteste, das, von Mädchen gezeichnet, homosexuelle Beziehungen unter prinzenhaften Jungen behandelt. Mädchen kommen darin nicht vor.
Junge Frauen werden von der Werbung umgarnt und empfangen zahlreiche Botschaften, daß es in Ordnung ist, sexuell aktiver zu werden. Zugleich sind nicht wenige bereit, sich nach dem schwachen Vater dem erstbesten autoritären Mann hinzugeben. In den vergangenen Jahren hat das Phänomen von Schulmädchen, die sich (häufig über ihr Handy arrangiert) an erwachsene Männer prostituieren (enjo kôsai), immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Im Gegensatz zu den über-höflichen Jungs, benutzen Mädchen zunehmend eine unverfrorene, schroffe, ruppige Redeform, gepfeffert mit Verkürzungen. Wenn sie mit engen Freunden sprechen, klingen Jungs wie Empfangsdamen und Mädchen wie Bruce Willis.
Jungs finden Autorität weder in ihren Vätern, noch in ihren Lehrern, die auch nur von oben, letztendlich vom Bildungsministerium gehänselt (ijime) werden. In den Geschlechterbeziehungen ist die größte Gruppe der Jungs gelähmt durch mangelndes Selbstbewußtsein gegenüber Mädchen. Eine viel kleinere Gruppe ist naßforsch, verächtlich und sexistisch. Die Ausnahme im wirklichen Leben, aber die beliebteste Figur in allen fiktiven Formen wie Boy Bands und Manga ist der yasashii niichan, der sanfte, brüderliche Typ, oder der nimaime, der Charmeur, der Mädchen tatsächlich als vollwertige, menschliche Wesen ernst nimmt. Er trägt Ohr- und Nasenringe, T-Shirt und Schlabberhosen, die die Wespentaille und die langen Beine betonen. Er ist ein androgynes Zwischenwesen. Sein Appeal bei beiden Geschlechtern liegt in seiner Ambivalenz, Unbeständigkeit und Multidimensionalität.
Der ausgeprägte Konformitätsdruck der japanischen Kultur beruht auf einem inneren Ausschließungsmechanismus. Ein bedeutender negativer Faktor in der Genese des Otaku-Phänomens ist das ijime, das mit "Hänseln" oder neudeutsch mit "Mobbing" übersetzt werden kann. Anwesenheitsgruppen bilden und festigen sich durch die Ausgrenzung eines ihrer Mitglieder. Opfer des ijime kann jeder werden, der sich durch eine Andersartigkeit auszeichnet, sei es eine Schwäche oder Stärke, einen Dialekt aus einer anderen Region, einen längeren Auslandsaufenthalt, eine besondere Begabung beispielsweise in Mathematik, die als Strebertum gegen ihn verwendet wird. Die Schülergruppe bekräftigt ihre innere Homogenität, indem sie sich geschlossen gegen diesen Anderen im Eigenen richtet. Dies kann die Form von Sticheleien annehmen, aber auch soweit eskalieren, daß das Opfer keinen Ausweg als den Selbstmord sieht.
Zu den positiven Möglichkeitsbedingungen eines Otaku-Lebensstils gehört eine Tendenz seit etwa zwanzig Jahren auf dem Arbeitsmarkt. Die derzeitige Veränderung der sozialen Großwetterlage bezeichnet der amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett als das Ende der "Normalbiographie". Nach dem Zweiten Weltkrieg schufen starke Gewerkschaften, die Garantien des Wohlfahrtsstaates und große Unternehmen gemeinsam eine Ära relativer Stabilität. Mit dem Eintritt in eine Lebensanstellung waren die weiteren Schritte bis zur Pensionierung vorgezeichnet. Über die eigene Biographie hinaus hoffte diese Generation ihren Traum vom sozialen Aufstieg im Leben ihrer Kinder fortzuschreiben. Sie sollten es einmal besser haben. Doch was sich für einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren als Ideal in den Begriffen "Karriere" und "Charakter" ausdrückte, löst sich heute in einem Flickenteppich von "Projekten" auf. Eine überschaubare Stufenleiter, auf der die Menschen in der Arbeitswelt und darüber hinaus ihr Leben langfristig entwerfen und in Loyalitäten und Verpflichtungen einbinden, wird durch eine unruhige Wechselhaftigkeit ersetzt. "Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als die High-Tech-Daten oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen außerhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten berührt. Auf die Familie übertragen bedeuten diese Werte einer flexiblen Gesellschaft: bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer."(6)
In Japan hielt sich das System der Bildungsganggesellschaft, der Lebensanstellung in den Kernunternehmen, der Gruppenorientierung, der Loyalität gegenüber Institutionen, die Sicherheit versprachen, und der Nationalidentität, die das heimische Archipel als Oase der Stabilität in einem Meer von Umwälzungen und Unruhe wähnte, länger als in den okzidentalen Industrieländern. Doch auch hier häufen sich seit den achtziger Jahren Zeichen für strukturelle Veränderungen und Wertewandel. Kinder, die in dieser Welt aufwachsen, verspüren weiterhin die Erwartungen der Familie, eine langfristig stabile gesellschaftliche Rollenvorgabe einzufüllen. Doch zugleich empfangen sie aus der Arbeits- und Konsumwelt sich widersprechende Signale, die Flexibilität, lebenslanges Lernen und Internationalisierung fordern. Auch sie müssen sich Sennetts Fragen stellen: "Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?"(7)
Eine wachsende Zahl junger Japaner reagieren darauf, indem sie den Schritt in eine mögliche Karriere hinauszögern. Nach den Aufnahmeprüfungen, die um so schwieriger sind, je höher in der Rangordnung die Schule steht, gewähren die vier Jahre am College eine Atempause. Das Studentendasein ist eine Lizenz, den eigenen Interessen, Hobbys, Reisen und Konsum nachzugehen. Eine Möglichkeitsbedingung dazu stellen die Zeitarbeitsagenturen dar, die seit den achtziger Jahren den größten Zuwachs von allen Arbeitsmarktsegmenten verzeichneten. Die den Otaku vorangegangene Yuppie-Generation hat als "Neue Menschen" (shinjinrui) oder - nach dem Roman von Douglas Coupland - als "X-Generation" Eingang in die japanische Populärkultur erlangt. Ihren hedonistischen und materialistischen Lebensstil verdienten sie sich mit Jobs in der Werbung, in Software, Netzen, Videoproduktion, Fernsehen und Games. Die entgegengesetzte Haltung zeigen die Otaku. Nicht zur Schau getragener Luxus, sondern ihr jeweiliges Hobby ist Selbstzweck. Das nötige Geld verdienen sie sich mit einem Minimum an Einsatz und Bindung durch Teilzeitjobs zum Beispiel in den 24-Stunden-Supermärkten. Jobber werden in Japan nach dem gleichnamigen amerikanischen Film von 1991 als "Slacker" bezeichnet. Sie erledigen die Dreckarbeit der Dienstleistungsgesellschaft, aber dafür lassen sie sich nichts vorschreiben. Aus der Perspektive einer Berufskarriere leben sie in einem Zustand des Dahintreibens, den der ältere Begriff des "psychosozialen Moratoriums" des Psychiaters Keigo Okonogi(8) nur unzureichend beschreibt, impliziert er doch, daß es sich um eine vorübergehende Lebensphase handelt, die, wenn auch verzögert, in eine Form der Normalbiographie einmündet.
Derart aus dem abstrakten Gebilde Gesellschaft wie aus den konkreten Anwesenheitszusammenhängen von Familie, Freundschaftsgruppen und Arbeit herausgefallen, richtet sich der Otaku in einer medialen Diaspora ein. Eine mediengeschichtliche Voraussetzung dafür ist im Übergang vom Fernsehen zum TV-Game zu sehen. Der Bildschirm wurde dadurch von einem Ort des passiven Empfangs zu einem, in den der Spieler mit dem Controller hineingreifen kann, in dem er etwas bewirken, in dem er handeln kann. Dieser Raum öffnete sich zu Beginn der achtziger Jahre durch Computer-Mailboxen für einen Austausch mit anderen. Was der kalifornische Netzkulturtheoretiker Howard Rheingold als "virtuelle Gemeinschaften" bezeichnete,(9) kommt einem Otaku-Kommunikationsstil auf ideale Weise entgegen. Ein Vorläufer für diese Art von Zweiwegkanal ist das Amateurradio, und tatsächlich finden sich unter japanischen Computer-Otaku zahlreiche lizenzierte Funker. In den elektronischen Foren präsentieren pseudonyme Teilnehmer Gleichgesinnten ihre neusten Informationsfundstücke. Je ausgefallener und schwieriger zu beschaffen, desto größer ist die Anerkennung, die sie von ihren Mit-Otaku dafür erhalten. Sicher bilden zahlreiche Faktoren den Hintergrund des Otaku-Phänomens, doch das entscheidende Element sind neue Medien und Mediennutzungen, die einen anderen Zugang zu Welt erlauben.
Der Otakismus ist somit keineswegs nur eine Fluchtbewegung. Unter seinen positiven Beweggründen ist ein Lustgewinn und ein Mehrwert an Sinn zu nennen. Dem Otaku gelingt es, in einem kleinen Weltausschnitt Kohärenz zu schaffen - etwas, das sonst im Leben kaum mehr zu haben ist.
Otaku in Japan
Auch die Otaku-Welt kennt ihre Helden und Könige, die aus dem Underground heraus zur Berühmtheit aufgestiegen sind. Anfang der neunziger Jahre war es Taku Hachirô, der als selbsternanntes Sprachrohr der Otaku in seiner Kolumne "Otaku-Himmel" in der Illustrierten Spâ! und in Fernsehshows einer breiteren Öffentlichkeit davon berichtete, was mit ihren Kindern vor sich geht. Er tat dies nicht als distanzierter Sozialpsychologe, sondern inszenierte ein 'authentisches' Otakutum auf massenmedien-gerechte Weise.
In der Zwischenzeit haben die japanischen Otaku einen Sprecher auf höherer, ja auf höchster Ebene erhalten. Toshio Okada (geb. 1958) ist Abgänger der Tokio Universität und Mitbegründer des Otaku-Anime-Studios Gainax. An seiner Alma Mater, der Spitze der japanischen Universitätspyramide, hielt er immens populäre Seminare über den "Otakismus" und veröffentlichte eine "Einführung in die Otakuologie"(10). Okada weist den Otaku darin eine auch internationale Vorreiterrolle in der Informationsgesellschaft zu. Es geht ihm darum, sie als eine neue Art von Expertentum zu etablieren. Ihr Blick richte sich auf die Machart, die Spezialeffekte und die Handschrift einzelner Comic-Zeichner. Wo Gutenbergianisch geschulte Betrachter eine Geschichte sehen, referieren sie zuallererst auf die syntaktischen Ebenen. Ihr Urteil beruhe auf einem umfangreichen Kenntnisschatz des jeweiligen Genres, der es ihnen erlaubt, Zitate zu entschlüsseln, Bezüge zu legen und Nuancen zu goutieren. Seine Behauptung, die Otaku-Kultur haben ihren Ursprung in den Science-Fiction-Clubs der Universitäten, ist zweifelhaft, doch drückt sich darin sein Anliegen aus, den Otakismus aus der Schmuddelecke zu holen und an einen hochkulturellen Diskurs zu koppeln. Die Otaku mögen sich auf populärkulturelle Gegenstände beziehen, aber sie tun dies, so Okada, auf eine Weise, die einem ästhetisch und kunstgeschichtlich gebildeten Galeriebesucher alle Ehre machen würde. In einem selbst Comic-haften Geschichtsschema stellt er die Otaku-Kultur als wahren Erben der japanischen Kultur hin, die durch die Kinderkultur hindurch und über den Riß der Atombomben hinweg an der Volkstradition des neunzehnten Jahrhunderts anknüpfe.
Damit hat der Otakismus aus den heiligsten akademischen Hallen Japans die Würde eines Ideengebäudes, eines -ismus, erlangt. Zur weltweiten Verbreitung und Anerkennung gründete der selbsternannte "Otaking" im Internet eine "Internationale Otaku-Universität". Okadas Pläne, einen Otaku-Fernsehkanal zu starten, der vierundzwanzig Stunden am Tag brandheiße Neuigkeiten aus den weitverzweigten Ästen des Otakismus berichtet, scheinen sich vorerst zerschlagen zu haben. Heute zieht Okada zusammen mit zwei akademischen Kollegen als "Otaku-Amigos" durch die Lande und verbreitet die frohe Botschaft auf Events und in Talkshows.
Trotz aller Bemühungen um eine Öffnung sind die Otaku bis heute wesentlich eine 'Subkultur', die ihre Infrastruktur in den Zirkeln der dôjinshi, der Manga von Fans für Fans im Eigenverlag, den regelmäßigen komike (Comic-Markt) und anderen Events, und schließlich in den elektronischen Mailboxen hat. Aber, "das Problem mit den Otaku ist nicht, daß sie ein Underground wären, vielmehr sind sie ein weitverbreitetes Phänomen und gleichzeitig vollständig geschlossen, 'anti-sozial' und isoliert. Ihre Zahl ist sehr groß..."(11) Auch wenn sie anti-professionell sind und außerhalb der gewöhnlichen Szene der Lohnarbeit stehen, so zirkulieren durch ihre Hobbyaktivitäten doch erhebliche Beträge in ihren Schwarzmarktnetzen.
Der Otaku kommuniziert aus seiner Monade heraus sehr wohl mit Gleichgesinnten. Dem Popularkulturforscher Kyoichi Yamazaki zufolge wäre ihr Kommunikationssystem jedoch besser als Netzwerk zu bezeichnen, denn als Community.(12) Auch innerhalb dieser Kanäle ist ihre Kommunikationsweise nicht interaktiv. Ihre Äußerungen erlauben keine Anschlußkommunikationen, außer einer Überbietung durch neuere oder noch esoterischere Informationen. Laut Yamazaki haben sich die Komike-Teilnehmer seit ihrer 'Entdeckung' in Zahl und Qualität nicht nennenswert verändert, aber die der Netz-Otaku habe seit Mitte der neunziger Jahre rapide zugenommen
Otaku in Europa
Natürlich geht es bei den Otaku nicht um ein exotisches Phänomen, das nur in dem außergewöhnlichen Biotop Japans gedeihen würde. Anzeichen eines grassierenden Otakismus zeigen sich ebenso in Europa und Nordamerika. Im westlichen Kontext wird man an die Trekkies denken, die Fans der Fernsehserie Star Trek. Das Deutsche kennt den Computer- oder HiFi-Freak als jemanden, der sich außergewöhnlich tief in ein esoterisches Alltagsgebiet versenkt. Im Amerikanischen spricht man heute mit einer ähnlichen Bedeutung - und den gleichen Wurzeln in der Freak-Show der Jahrmärkte - von Nerds oder Geeks. Bei ersteren liegt der Schwerpunkt darauf, daß die Betreffenden in ihrer sozialen Kompetenz minderbemittelt sind, bei letzteren auf einer ausgeprägten Faszination für einen meist technischen Gegenstand. Das Wort Geek erlebte einen rasanten Aufstieg zusammen mit dem Internet. Es ist assoziiert mit jungen, hochmotivierten und gutverdienenden Computer-Arbeitern. Otaku enthält Anteile des Nerds gepaart mit den obsessiven Aspekten des Geeks. Allen gemein ist die - von einer Mehrheitskultur aus betrachtet - negative Konnotation von bebrillten, sozial unfähigen Bücher- und Medienwürmern. "Science-Fiction-Fantum, die Computer-Welt und die der Video-Spiele sind die reinsten Beispiele. Für den Zweck unserer Untersuchung ist eine Geek-Kultur nichts mehr als eine Nischenkultur, die ausgelacht wird", schreibt Mike Sugarbaker, im Editorial der Zeitschrift Gazebo, The Journal of Geek Culture.(13) Sie lieben Logik und Systeme. Zugleich sind sie "un-cool", da sie sich für bestimmte Dinge begeistern und erregen. Sie sind aktiv, da eine passive Konsumhaltung - und wird sie noch so exzessiv und ausschließlich betrieben - niemanden als Geek oder Otaku qualifiziert. Ein entwicklungspsychologischer Aspekt sind die sicheren Mikrowelten, die Kinder und Jugendliche zu beherrschen lernen: Welten aus Dingen, da Menschen sich immer wieder als unbeherrschbar erweisen.
Wie andere derogative Bezeichnungen werden Otaku, Freak und Geek auch selbstreflexiv mit einem gewissen Stolz gebraucht. Beineix' Film "Otaku" hatte seinen Anteil an der Verbreitung des japanischen Begriffs im Westen. Liebhaber japanischer Comics und Zeichentrickfilme übernahmen ihn für sich. Seither kann man Jugendliche mit T-Shirts sehen, auf denen "Proud to be Otaku" geschrieben steht. Beineix vermeidet es, in seiner Reportage Bezüge zu vergleichbaren Phänomenen im Westen herzustellen und huldigt einem ungezügelten Exotismus. Doch einer seiner Interviewpartner legt selbst die Verbindung. Idol-Otaku Masakazu Uenomura sagt zu Beineix: "Ich bin wie Jules in Ihrem Film 'Diva'. Jules betet diese Opernsängerin an und läuft ihr nach. Ich bin wie er." Im Nachhinein begann Beineix mit seinem Thema zu kokettieren. In einem Interview bekannte er, er fühle sich selbst als Otaku, da er ein Bilderfetischist sei.
Am letzten Wochenende im März 1999 trafen sich in Königs Wusterhausen bei Berlin rund Hundert Anime-Fans aus ganz Deutschland. Anime no Tomodachi, die Freunde des japanischen Animationsfilms, hatten dazu eingeladen. An den Ständen und auf der Auktion waren die Paraphernalia des Fantums zu erstehen: Anime auf Videocassetten, LaserDisc und DVD, Manga und Artbooks, Figuren und Bausätze, Poster und Tradingcards. Auf dem Programm standen auch Karaoke und Cosplay, ein Kostümspiel, bei dem sich die Fans als ihre Lieblingsfiguren verkleiden. Doch vor allem ging es natürlich darum, von morgens bis spät in die Nacht in drei parallelen Vorführräumen Anime anzuschauen. Ron Carow, einem der Veranstalter, ist sehr daran gelegen, das einseitige Image des Anime in der Presse zu korrigieren. "Wir in Deutschland machen den Fehler zu sagen, Zeichentrick ist Kinderkram, oder: Anime ist Teufelswerk, Porno, Gemetzel, Blut und Splatter." Entsprechend liegt der Schwerpunkt der Filmauswahl hier auf Abenteuer und Komödie, Thriller und Science-Fiction. Eine auffallende Zahl der gezeigten Anime hat weibliche Helden.
"Im Westen bezeichnen sich die Fans von Anime und Manga selber als 'Otaku'", sagt Carow. "Ein 'Hardcore-Otaku' ist ganz besonders verrückt, jemand, der sich mit Haut und Haar diesem Bereich verschrieben hat und auch Japanisch lernt. Verrückt ist man sowieso nur aus der Sicht von anderen, die sich selbst für normal halten." Naheliegenderweise sind es oft Japanologiestudenten, die sich für die japanische Populärkultur begeistern. Aber auch der umgekehrte Fall findet sich nicht selten: daß junge Leute über das Bedürfnis, die Original-Manga lesen zu können, beginnen die schwierige Sprache zu erlernen. Ein weiterer auffällig großer Teil der deutschen Otaku sind angehende Informatiker. Dies ist ein Beleg für die These, daß die Mikrowelten von Zeichentrickserien, Rollenspielen und eben des Computers die gleiche Disposition ansprechen. Auch die vorherrschende Altersgruppe zwischen 15 und 30 deutet auf den Otakismus als Strategie in der identitätsbildenden Lebensphase.
Nach Carows Einschätzung ist die deutsche Otaku-Welt nicht besonders groß. Bestseller unter den Anime-Videos verkaufen sich 20.000 mal, in der Regel liegen die Zahlen jedoch bei 3-4.000. "Sobald etwas aus der Nische heraustritt, ist der Reiz des echten Fans weg. Als Anfang der Neunziger 'Sailor Moon' rauskam, war es das Thema überhaupt. Seit es im Fernsehen lief, interessiert sich der Großteil der Anime-Fans nicht mehr dafür. Die Seltenheit und die Schwierigkeit der Beschaffung macht ja auch - genau wie für den Briefmarkensammler - einen Reiz des Hobbys aus."
Die Exklusivität ist fraglos ein wichtiges Kriterium, um sich durch das Vorzeigen der eigenen Sammlung beweisen zu können. Für unsere Zwecke müssen wir jedoch die enge Bedeutung des Begriffs Otaku, die hier nur für die Fans von japanischen Comics und Zeichentrickfilmen verwendet wird, erweitern. Eine Sammel- und Fan-Leidenschaften von einer otakistischen Ausschließlichkeit und Intensität finden sich auch in bezug auf Bierdeckel und Dampflokomotiven. Einen Otaku-Lebensstil pflegen ebenso Hyper-Hobbyisten, die in ihren Modellbausätzen oder ferngesteuerten Booten so sehr aufgehen, daß ihre Familie darunter leidet. In diesem Sinne kann man auch von einem Motorrad-Otaku sprechen.
Auch die Einschränkung auf japanische Gegenstände greift zu kurz. Der populärkulturelle Markt ist globalisiert. Die Lebensbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche in den überentwickelten Ländern aufwachsen, unterscheiden sich kaum. Um ein Fan von Kraftwerk oder Amon Düül, Tenchi Muyo oder Evangelion, Star Trek oder Disney zu werden, spielt es keine Rolle, ob man in Osaka, München oder Dallas wohnt. Die Informations- und Distributionskanäle erreichen jeden Punkt auf der Erde. Es mag also interkulturelle Unterschiede zwischen den Konzepten Otaku, Geek, Nerd und Freak geben, doch die Grundstrukturen der, wenn man so will, 'subkulturellen' Formen von Fans, Sammlern, Spielern und Hackern finden sich überall.
Der Sammler
Gleich welchem Genre ein Otaku angehört, seine Grundoperationen sind Beschaffen, Aufnehmen, Ordnen, Speichern, Inventarisieren - in einem Wort: Sammeln. Die Serie gleichartiger Gegenstände allein bereitet Befriedigung, nicht das Einzelstück, sondern Schatzhäuser, Wunderkammern, Bibliotheken und Museen voller Dinge, die von der Last der Nützlichkeit befreit sind. Triviale Alltagsgegenstände in großer Zahl nebeneinandergestellt erlangen eine eigene Würde und Schönheit. Psychologische Untersuchungen über diese Leidenschaft deuten darauf hin, daß sich durch das Sammeln bestimmte Minderwertigkeitskomplexe kompensieren lassen. Es erlaubt eine Identitätsbildung durch Abgrenzung von System und Umweltrauschen. Der wahre Sammler weiß bei allem, was ihm begegnet, ob es irrelevant oder wert ist, in die Systematik aufgenommen zu werden. Immer ist er bestrebt, Raritäten zu ergattern. Eine Selbstbegrenzung auf winzige Sammelgebiete, zum Beispiel auf Telefonkarten aus Anguilla in der Karibik, läßt hoffen, eine Vollständigkeit zu erlangen, die sonst im Leben ausgeschlossen ist.
Schon für den Nichtsammler gilt: Man ist, was man behält. An den mit Erinnerungen aufgeladenen Gegenständen, an den Fotos, Postkarten, Mitbringseln, Geschenken läßt sich die Geschichte des eigenen Lebens nachlesen. Häuft sich eine größere Zahl gleichartiger Objekte an - Briefmarken, Orangenpapierchen, Telefonkarten, Streichholzschachteln -, so können sie zum Grundstock einer Sammlung werden. Bald verlangen sie nach einer Klassifikation. Aus dem Schuhkarton kommen die Stücke in Präsentationsmappen und Schaukästen, geordnet nach Herkunftsort, Jahrgang, Künstler oder welche Systematik das jeweilige Sammelgebiet auch immer nahelegt. Aus einem zufälligen Sammelsurium entsteht so eine Taxonomie der Welt betrachtet durch die Lupe von Bierdeckeln oder Schüttelgläsern, Münzen oder Miniaturen. Hannah Arendt merkte einmal die dem Sammeln innewohnende Gewalttätigkeit an. Der Sammler zerstöre den Kontext, in dem das Objekt einst Teil einer größeren, lebenden Einheit war. Da ihn nur das Einzigartige interessiere, müsse er alles bereinigen, was typisch daran ist. Dem Außenstehenden mag es als übermäßige Selbstbegrenzung erscheinen, doch mit Hilfe von Tausenden von Orangen- und Zitronenpapierchen lassen sich Reisen unternehmen in Anbau- und Importländer, durch die Geschichte der Kolonialreiche und der Verkehrsmittel, durch Mythen und Technologien. Geht man durch das Nadelöhr des Sammlungskriteriums, eröffnet sich ein Blick auf ein Universum. In jedem Sammelgebiet spiegelt sich, wie in dem Bruchstück eines Hologramms, die ganze Welt. Besser als von einem Spiegel spräche man von einem Filter, durch den aus dem Kontinuum der Erscheinungen das auf das eigene Spielbrett fällt, was 'paßt'. Heute bringt die Informationsexplosion zusammen mit der ständig wachsenden Speicherkapazität digitaler Medien einen wahren Boom von Listen, Kompilationen, Bibliographien, Enzyklopädien und anderen Informationssammlungen hervor. Nichts eignet sich besser zum Anhäufen, Indizieren, Filtern und Immer-wieder-neu-Ordnen als digitale Daten.
Der inneren Logik der Sammlung entspricht eine Sozio-Logik. Durch Vorzeigen, Tauschen, das Studium von Katalogen, Fachzeitschriften und Mailinglisten und das Besuchen von Stammtischen und Börsen steht der Sammler in einem Netz von Mitverschworenen. Man kennt sich in der Szene derer, die die gleiche Leidenschaft hegen. Gelegentlich wird man seine Sammlung auch Laien vorzeigen, doch wahre Befriedigung bereitet erst die Würdigung durch einen Connaisseur. An Urteil und Sprache beweist sich Kennerschaft. "Freylich kommt es viel auf den Charakter, auf die Neigung eines Liebhabers an, wohin die Liebe zum Gebildeten, wohin der Sammlungs-Geist ... ihre Richtung nehmen sollen und eben so viel, möchte ich behaupten, hängt der Liebhaber von der Zeit ab, in die er kommt",(14) schreibt ein des Otakismus völlig Unverdächtiger. Fast 40.000 Objekte aus Kunst und Naturkunde hat Johann Wolfgang Goethe zeit seines Lebens zusammengetragen. Die Besucher, die er fast täglich durch seine Sammlung führte, waren ihm Gelegenheit für Entdeckungen von unscheinbaren Einzelstücken, die er bislang nicht hinreichend gewürdigt hatte, und Anlaß diese Menschen selbst zu klassifizieren. So wie der Sammler durch die Wahl der Objekte, mit denen er sich umgibt, seine Identität bildet und zu erkennen gibt, so enthüllt auch der Betrachter durch das, was er fokussiert und das, was er außer acht läßt, seinen Charakter. Trotz der gewaltigen Distanz in Zeit und Format gelten Goethes Grundmotive ebenso für den Otaku-Sammler. "Er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt, ummauert sich eine kleine drein und staffirt sie aus nach seinem Bilde."(15) Der Unterschied liegt in der Einbindung der Sammlung ins Kommunikationsspiel der Betrachtenden. Für den Universalgebildeten war es das halbe Vergnügen, für den Otaku ist es entbehrlich. In Beineix' Film wird eine Video-Otaku gefragt, wie oft er sich die Filme ansehe. "Gar nicht", antwortet er. "Ich nehme sie nur auf, damit meine Sammlung vollständig ist."
Der Bastler
Radios, Flaschenschiffe und Automotoren sind komplexe aber begrenzte Systeme. Sie bieten das Spielfeld, auf dem der handwerklich geneigte Otaku sich entfaltet. Der Computer-Freak oder Hacker(16) ist eine weitere klassische Bastler-Figur, auch wenn er es eher mit Software zu tun hat. Brillant im Umgang mit der Technik hat er mit der allgemeinen Verbreitung von Rechnern und Internet an Prestige gewonnen, da er gelegentlich bei unlösbaren Problemen aushilft. Als ungeselliges und nachtaktives Wesen fühlt er sich jedoch in seiner innigen Interaktion mit dem Computer am wohlsten.
Meisterschaft und Beherrschung in einer in sich geschlossenen Dingwelt ohne die Unwägbarkeiten eines menschlichen Gegenüber sind das Ziel des Computer-Geeks. Wer eine erste Stufe erklommen hat, dem wird der Computer Erlebnisse instantaner Gratifikation verschaffen. Natürlich ist der Otaku keine schlichter Anwender. Er wird selbst programmieren und die Maschine dazu bringen wollen, Dinge zu tun, für die sie nicht gedacht war. Auch Leute, die einen erfinderischen Umgang mit Münztelefonen, Satellitenschüsseln und Getränkeautomaten pflegen, gehören in diese Kategorie.
Hiroshi ist ein schüchterner Junge. Im Tennis-Club spielt er nie gegen einen Partner, sondern nur gegen die Wand, weil die den Ball so zurückgibt, wie er ihn geschlagen hat. Eigentlich ist er nur dabei, weil seine aus der Ferne angebetete Traumfrau Mari Mitglied ist und er so dreidimensionale Videodaten ihres Körpers sammeln kann. Zuhause fügt er die Informationen zusammen, um einen Androiden zu bauen, der ihr auf's Haar gleicht. Nach dieser Einleitung handelt der japanische Zeichentrickfilm"Boku no Mari" von den emotionalen Verwicklungen, zu denen das Auftauchen von Maris elektromechanischer Doppelgängerin führt. Zwischenmenschliche Mißverhältnisse durch Technik zu lösen ist keineswegs nur die Strategie von Otaku. Sie liegt vielmehr der Informationstechnologiegesellschaft zugrunde. Auch daß gerade die Frau Gegenstand der Technisierung wird, ist nicht charakteristisch, sind doch Video und Internet in erheblichem Maße Junggesellenmaschinen. Wiederum zeichnet sich der Otaku nur durch die Intensität und Ausschließlichkeit aus, mit der er ein gängiges Verhaltensmuster einfüllt.
Der Spieler
Hier sind nicht die Skat-, Schach-, Fußballspieler oder andere gemeint, die ihr Spiel in Gemeinschaft betreiben. Eine Otaku- oder Geek-Qualität erzielen vor allem solitäre Spiele wie Video- und Computer-Games. Folgt man den klassischen Ausführungen Johan Huizingas, so ist das Spiel ein Heraustreten aus dem gewöhnlichen Leben in eine zeitliche Sphäre mit einer eigenen Bedeutungswelt.(17) Primär gehorcht das Spiel internen Regeln, obgleich es auf Gegenstände außerhalb verweisen kann. Es schafft eine Ordnung, eine Anordnung, einen Stil, und es wird von der Qualität des Als-Ob bestimmt. Was geschieht ist nur ein Spiel. In dem 'nur' liegt ein Bewußtsein der eingeschränkten Gültigkeit gegenüber dem Wirklichen, der Verrückung aus dem Ernst des Lebens. Als ein Hauptmerkmal des Spiels nennt Huizinga seine räumliche Begrenzung. Es konstituiert eine Mikrowelt innerhalb der gewöhnlichen, in denen eigene Regeln gelten.
Mit dem Computer wird erstmals eine Maschine zum Gegenspieler. Ein Spielpartner, der stets bereit ist, der den Spieler einhüllt und ihn die Außenwelt vergessen läßt. Nicht jeder spielt, aber jeder der spielt spürt die Sogwirkung der Games. Am deutlichsten tritt die Fesselungskraft zutage bei Game-Freaks, Mania, Otaku. Identifikation durch Handeln hat eine besondere Bindekraft. Wie beim Sport befinden sich die Spieler in einem hochgradig fokussierten und aufgeladenen Geisteszustand. Für viele geht es nicht um Punkte, sondern um diesen Zustand von Aufgeregtheit, Konzentration, Anspannung.
Die Bereitschaft, sich von einem Programm dazu verführen zu lassen, es für menschlich, genauer: weiblich zu halten, scheint in Japan besonders ausgeprägt. Mit den sodate geemu - Erziehungs- oder Entwicklungsspielen - ist daraus ein eigenständiges Genre entstanden. Sie tragen Züge von Simulationen und von Rollenspielen, geben beiden jedoch eine eigene Wendung. Der Klassiker der Erziehungsspiele ist "Princess Maker", das 1991 von der aus der Otaku-Kultur hervorgegangene Anime-Produktionsfirma Gainax lanciert wurde. Der Spieler nimmt sich darin eines kriegsverwaisten Mädchens aus einem mythischen Königreiche an und zieht sie als Adoptivtochter groß. Seine Aufgabe ist es, ihr die Schul- und Lebensbildung, die es für eine Traumfreundin braucht, beizubringen. Dazu setzt er Naturwissenschaften oder Literatur, Anstand und Etikette, Kampfkünste, Reisen und Haushaltsaufgaben auf ihren Stundenplan. In einem Mittelalter-Szenario - die Prinzessin wird ihm im Jahr 1200 von einem Engel zugestellt - mit parodistischen Einschlägen aus anderen Genres führt er sie durch verschiedene Situationen, trifft multiple-choice-Entscheidungen und kontrolliert ihre Fortschritte anhand von Befindlichkeitsskalen. Gewinnen läßt sich bei diesem Erziehungsspiel nichts als eine liebenswürdige Prinzessin oder eine ungezogene Göre. Inzest- und Rorikon- (Lolita-Komplex) Motive sind bei "Princess Maker" nicht zu übersehen, doch vor aller explizierter Sexualität scheint die simulierte kommunikative Macht über das andere Geschlecht für den Erfolg unter Japans männlichen Otaku verantwortlich zu sein.
Mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare ist "Graduation" (Image Works, 1995) ein weiterer Spitzenreiter unter den sodate geemu. Als Lehrer muß der Spieler fünf Schülerinnen in seiner Klasse betreuen. Er wählt ihre Fächer, entscheidet über ihre Freizeitaktivitäten und, wenn sie sich dem Abitur nähern, trifft er weitere Lebensentscheidungen für sie. Dazu muß er ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten berücksichtigen und darf keiner von ihnen zu viel Aufmerksamkeit zukommen lassen, da sonst die anderen ungezogen werden, streiten und aus der Schule weglaufen. Trotz einiger Nacktszenen geht es auch bei "Graduation" nicht um Pornographie. In Japan gibt es wie überall eine reiche Auswahl an erotischen Games. Vielmehr bieten diese Spiele heranwachsenden Männern die Gelegenheit, im Schutz der Fiktionalität mit weiblichen Figuren zu interagieren, deren leibliche Pendants ihnen als unbegreifliche, einschüchternde Spezies erscheint. In "Exciting Memory" (Konami, 1994) kann der Spieler gewiß sein, daß sich in jeder Runde mindestens eine seiner zehn Mitschülerinnen in ihn verliebt. Einen "Realismus", der wie bei Börsensimulationen den Übergang von den Trockenübungen zum wirklichen Rendezvous zuließe, wird hier kaum jemand erwarten. Auch wenn Erziehungsspiele wie eine 'heile Welt' aussehen, in der Männer noch Autoritäten und Mädchen wenn auch eigenwillige so doch letztlich gefügige Wesen sind, so ist es wohl weniger ein Machismus, der die Spieler treibt, als das Grundgefühl, unendlich weit vom anderen Geschlecht, ja von allen Menschen entfernt zu sein, zumindest von solchen, die nicht in der Form von Avataren erscheinen. Daß Atombombentests inzwischen vorwiegend im Computer simuliert werden, ist zu begrüßen. Ob die Digitalisierung des Geschlechterkampfs zur Entspannung in der japanischen Lebenswelt beiträgt, bleibt abzuwarten.
Der Fan
Fans sind immer auch Sammler. Doch wahres Fantum, sicher wenn es mit einer Otaku-Intensität betrieben wird, gibt sich mit dem Konsum der offiziellen, von der Kulturindustrie erzeugten Paraphernalia nicht zufrieden. Es erfordert eigene Produktionen. Fanzines sind darunter natürlich die wichtigsten, aber ebenso finden sich Gedichte, Lieder, Comics, Kunstwerke ja ganze Romane, die um die Figuren aus Manga und Anime-Serien gesponnen werden. Die meisten beziehen sich auf die Mainstream-Vorlagen, wie die Trekkies auf Star Trek. Häufig handelt es sich um Parodien von massenkulturellen Vorlagen, ironische Verkehrungen, Trash-Varianten und sexuell explizite Versionen harmloser Geschichten. In der Welt der Trekkies erforscht ein - von Frauen geschriebenes - Genre namens K/S die erotischen Beziehungen zwischen Captain Kirk und Mr. Spock. Im Westen geben Amateure FanSubs und FanDubs von japanischen Anime heraus, meist witzig untertitelte oder synchronisierte Fassungen. Bei diesen Produktionen handelt es sich um eine Appropriation der Bilder und Figuren aus einer medialen Umwelt, in der die Fans nur als Konsumenten vorgesehen sind. Zwar besitzt nur ein geringer Teil der Otaku-Produkte eine kreative Eigenständigkeit, doch viele der Fan-Zirkel-Magazine, die auf japanischen Comic-Märkten verkauft werden, haben einen professionellen Standard und Auflagenzahlen, die kaum hinter den industriellen Produkten zurückstehen. Der übliche Vertriebsweg zwischen den Festivals ist Direktversandt. Auch das Internet hat eine große Zahl an inoffiziellen Fan-Sites hervorgebracht, und damit die Globalität, Geschwindigkeit und Dichte des Fan-Wesens immens erhöht.
In der Popmusik drückt sich die Verschiebung vom passiven Konsum zu einer größeren Eigenaktivität der Fans im Übergang vom Star-System zu dem der Idole aus. Das amerikanische Star-System der Nachkriegszeit hatte sich, wie in aller Welt, auch in Japan etabliert. Noch in den siebziger Jahren errangen sich auch hier die Stars der Unterhaltungswelt, die Sänger und Musiker, Schauspieler und Media-Personalities, die Gunst der Massen durch ein gewisses Charisma, eine telegene 'Ausstrahlung'. Im Japan der achtziger Jahre wurden die Stars zu Idolen übersteigert. Idole entsprechen in etwa den westlichen Boy- und Girl-Groups. Ein unaufhörlicher Strom von jungen, hübschen Menschen wird von der Musikindustrie nach allen Regeln der Kunst zu Models eher als zu Musikern gemacht, die in der Regel nach einem einzigen Titel wieder vom Markt verschwinden. Sie sind Kunstprodukte, entworfen nach dem Willen des Publikums und mit dessen Wissen und Komplizenschaft. In einer japanischen Enzyklopädie des Alltagswissens heißt es dazu: "Idole konkretisieren den Geist der achtziger Jahre, der durch Simulation bestimmt wird und damit den Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit zum Verschwinden bringt."(18) Idol Noriko Kato antwortet in Beineix' Film auf die Frage, was ein weibliches Idol ist: "Für Burschen, jemand den man beschützen will, für Mädchen, jemand mit dem man befreundet sein will." Sie werden verehrt mit einer Leidenschaft, die man nur aufbringt, wenn man die ersten Regungen einer Sexualität in sich aufwallen fühlt, aber noch nicht recht weiß, was man mit dem Mädchen oder Jungen in der nächsten Schulbank anstellen soll.
Der Übergang markiert vor allem eine Stärkung auf seiten der Fans, die jetzt Idolians heißen und deren Produktivität und Bindung an ihr Idol gegenüber der Fan-Star-Beziehung weiter gesteigert wird. Die Fan-Masse wird hier erstmals voll selbstreflexiv. Sie begreift, daß celebrity keine Qualität ist, die dem Star anhaftet, sondern daß sie, die Fans es sind, die sie täglich mit ihren Wunschprojektionen neu erzeugen. Die massenmedialen Heroen werden nur aus einem einzigen Grund gemacht: um die Herzen der Massen zu bewegen und um ihnen (ganz nach dem Wortsinn von "Idol") eine sakrale Figur zur Anbetung zu geben(19) - letztlich natürlich um Einschaltquoten zu erzielen, aber die sind für den Otaku, der sich eher auf zweitrangige, nicht oder noch nicht berühmte Idole konzentriert, allenfalls ein Negativ-Selektor.
In William Gibsons Roman Idoru(20) geht es um die beiden Seiten dieses Übergangs. Rez, der Sänger der Rockband Lo/Rez, hat sich zum Entsetzen seiner Manager und zur Verwirrung seiner Fans in ein Idol - und nicht nur das, gar noch in ein virtuelles Idol - verliebt und plant sie zu heiraten. Rez ist ein Auslaufmodell, ein Dinosaurier aus einer Zeit, da Stars noch analog, menschlich, charismatisch - kurz: irgendwie echt waren. Rez ist halb Chinese, halb Ire, wohl aus der US-amerikanischen Perspektive ein Marker für uralte geheimnisvolle Hochkulturen, die in dem "sino-keltischen Ding" zusammenkommen, das Rez zu laufen hat. Als low resolution erscheint er gegenüber den hochauflösenden aber fiktionalisierten Idolen, so wie die Schallplatte, die, von der CD aus gesehen, in ihrer Analogheit noch geradzu eine Aura mitzutransportieren schien. Den Gegenpol des Digitalen, Imaginären, Chimärischen bildet das Idol Rei ("Null") Toei.
"Idoru", sagte Yamazaki.
"Was?"
"'Idol-Sängerin.' Sie ist Rei Toei. Sie ist eine Persönlichkeitskonstrukt. Eine Anhäufung von Software-Agenten, die Schöpfung von Informationsdesignern. Sie ist dem verwandt, was man in Hollywood, glaube ich, einen 'Synthespian' nennt."(21)
Verwandt, aber eben nicht identisch, denn die Strategien des massenmedialen Kults sind andere in Hollywood und in Japan. Die erste Begegnung zwischen dem von Rez' Managementfirma angeheuerten Datenrechercheur Laney und Rei, die in Form einer holographischen Projektion mit am Tisch im Club Western World sitzt, macht dies deutlich:
Wenn er sie sich überhaupt vorgestellt hatte, dann als eine industrielle Synthese von Japans letzten drei Dutzend weiblichen Mediengesichtern. So machte man das gewöhnlich in Hollywood, und noch rigider wurde die Formel im Falle von Software-Agenten gehandhabt - Eigenköpfen, deren Züge algorithmisch aus einem Mittelwert von nachgewiesener Popularität abgeleitet wurden.(22)
Gibsons Science-Fiction spekuliert nie sehr weit in die Zukunft, und an diesem Punkt hat ihn, kaum das die Druckertinte trocken war, die Wirklichkeit eingeholt. Zur selben Zeit, da Gibsons Roman in die Buchläden kam, hatte die junge Popsängerin Kyoko Date ihr Debut im japanischen Fernsehen.(23) Sie ist eine Art Eigenkopf oder Synthespian. Ihre Basis ist eine Computergraphikfigur. Mit einer Technik namens Motion Capture wurden die Bewegungen einer Tänzerin und die Mimik einer weiteren wirklichen Person abgetastet und damit Kyokos dreidimensionaler Datensatz animiert. Schließlich verleiht eine Sängerin ihr eine Stimme.
Ihr Spitzname DK 96 läßt sie als Industrieprodukt erkennen, doch was ihr Publikum sieht, ist ein 16-jähriges Mädchen, aufgewachsen in Fussa-shi nahe einer US-Militärbasis, mit einem Sushi-Koch zum Vater, die boxt, um sich fit zu halten, 162 cm groß ist und (tatsächlich) ihre eigene Radio-Show hat. Ihr Profil ist bis in die kleinsten Details festgelegt. Und alle spielen das Spiel mit, am bereitwilligsten die Fans.
Tomiyuki Sugiyama, in dessen 70-köpfiger Firma Visual Science Laboratory, Inc. Kyoko Date geschaffen wurde, wies mich auf die zugrundeliegende Dynamik in der Welt des Show-Biz hin. DK 96 sei von ihrer Agentur Holi Pro im Bewußtsein einer Bedrohung lanciert worden.
Die traditionelle Unterhaltungswelt mit ihrer Talentproduktion, Fernsehen, Radio, CDs, Konzerten hat Konkurrenz bekommen von den Videogames. Die Computergraphikfiguren in Sega's Virtua Fighter und anderen Spielen tauchen in sehr erfolgreichen Fotosammelbände und anderen Medien auf. 'Wenn wir nicht die Initiative ergreifen', so die Überlegung bei der Talentagentur Holi Productions, 'werden wir von der Game-Welt überholt.'(24)
Die Branche scheint die Einschätzung zu teilen. Weitere virtuelle Idole, wie das Duo Pink Lady X, sind von den japanischen Fernsehanstalten lanciert worden. Noch gibt es Kyoko Date nicht als Holographie, und eine Künstliche Intelligenz - gar eine, die aus den Interaktionen lernen könnte - steckt auch noch nicht dahinter. Darin geht Gibsons Fiktion einen Schritt weiter. Seine Rei ist komplex, künstlich-intelligent, kein gemachtes Ding mehr, sondern ein gewordenes. Sie lernt aus all den elektronischen Briefen in ihrer Fan-Datenbank, vor allem aber aus der Interaktion mit ihrer Umwelt. Laney, der Daten-Rechercheur mit dem 'nodalen Blick', taucht in Reis Fan-Datenbank ein:
Er sah, daß die Menge der Daten, die die Fans der Band hier angehäuft hatten, um vieles größer war, als alles, was die Band je selbst generiert hatte. Und ihre Kunst selbst, ihre Musik und ihre Videos, waren nur ein Bruchteil davon.(25)
´Dieses Überwuchern der massenmedialen Präsentation mit persönlicher Kommentierung, diese zusätzliche Schicht von zwischenmenschlich generierter Bedeutung, von persönlicher Kontextualisierung ist das eigentliche Produkt der Fans. Den Kommentar zum Fernsehrereignis in Wohnzimmer, Schule und Büro hat es immer gegeben, aber erst mit einem Massenindividualmedium wie dem Internet, in der die vielen als eine Vielzahl von individuellen Kontexten zueinander sprechen, können Datenbanken entstehen, wie die, in der Laney recherchiert. Erst durch diese Rückkopplung der gesamten Fan-Masse auf sich selbst konnte die Menge ihrer Kommunikationen ihren Gegenstand oder besser: Anlaß - die Band, ihre Musik und ihre Videos - unter sich begraben.
Unmittelbar aus diesem Fantum speist sich Reis Existenz. Sie ist eine Wunschmaschine, ein Aggregat aus subjektiver Begierde. Ihre Videos werden nicht im herkömmlichen Sinne produziert. Sie emergieren direkt aus ihrer Erfahrung der Welt. Sie sind ihre Träume.
Rez und Rei stehen gegen Ende des Romans in ständigem Kontakt miteinander. Rez trägt an einem Stirnband ein Monokel-Display vor dem rechten Auge. Alles spitzt sich auf den Klimax hin zu, die "chymische Hochzeit". Die chymische Hochzeit geht auf eine Grunderfahrung allen mythischen Weltwissens zurück. Am Anfang der Welt steht die Ungeschiedenheit, das Chaos, das Tohuwabohu, das eins war. Dann treten Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Männlich und Weiblich auseinander und damit ins Sein, oder genauer: Werden. Die chymische Hochzeit steht dann für die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung der Dualitäten. Konkret meint sie verschiedene Ekstasetechniken, die innerhalb eines magischen Raums praktiziert werden. Sie drückt sich z.B. in der tantrischen Vereinigung der Geschlechter aus. In Europa erhält sich das alte heidnische Wissen bei den Alchimisten und als "unio mystica" in der christlichen Mystik. Bei den Jesuiten ist sie die höchste Stufe der Verschmelzung mit Gott im Gebet. Von den Klöstern ging das Wissen auf die Logen über. Am Beginn der Freimaurerei steht der unter dem Pseudonym Christian Rosencreutz 1459 veröffentlichte Roman "Die chymische Hochzeit".
Die chymische Hochzeit ist ein Lichtereignis. Die Rede von der "Erleuchtung" ist keineswegs nur metaphorisch gemeint. Es gibt solche, die bei tief im Gebet versunkenen Jesuiten eine Lichtverbindung zwischen ihrem Herz und dem Kreuz gesehen haben wollen. Es geht um die Schau des lebendigen Gottes, um die Verschmelzung von Geschöpf und Schöpfer.
Gibson verrät uns nicht, wie genau diese Vereinigung des virtuellen Idols mit dem Star von statten gehen soll. Doch verschafft er uns damit ein treffliches Bild für den Traum des Otaku von der Verschmelzung mit seinen Erzeugnissen. Im Spiel, in seiner Sammlung, im Fantum und im Computer sehnt er sich danach, die Menschen auszublenden und allein mit dem Menschengemachten zu verkehren.
Eine Lebensform der Zukunft?
Informationsflut und Mediendichte lassen kaum jemanden unberührt. Die zunehmende Flußgeschwindigkeit der Prozesse unseres Lebens zwingt uns dazu, an immer mehr Orten in immer mehr Projekten gemeinsam mit immer mehr Menschen zugleich zu sein. Eine Resonanz mit dem Zeitgeist scheint die Verflüssigung der Identitäten zu fordern, eine Flexibilisierung und ein multiples Aufmerksamkeits-Management.
Die Otaku erproben die entgegengesetzte Lösung. Ihr Drang nach Weltaneignung wird vom Ehrgeiz geleitet, die Grenzenlosigkeit des sozialen Kosmos einzutauschen gegen den Mikrokosmos der Sammlung, des Spiels oder der Maschine. Durch die radikale Beschränkung gelingt es ihnen, eine Identität zu stiften und eine Lebensgeschichte zu einer Erzählung zu bündeln. Steht der Multiple für eine Öffnung, so der Otaku für die Schließung. Das Otakutum kann ein unbekümmerter, fröhlicher Hobbyismus mit seinen Momenten des Glücks sein, wenn ein seltenes Sammlungsstück ergattert wird, ein Spielzug gelingt oder ein eigenes Programm zum ersten Mal läuft. Auf seiner dunklen Seite steht eine paranoische Stimmung von Isolation, Gehirnwäsche und einer marionettenhaften Existenz. Es scheint, als gelänge es den Otaku, dem Gefängnis namens Gesellschaft zu entkommen, nur um sich in der technologischen Medialität und Selbstreferenz ein neues Gehäuse zu bauen. Auch der bereits genannte Toshio Okada sieht in der Schließung das Hauptproblem, wie er in seinem Buch "Unsere Gehirnwäsche-Gesellschaft"(26) schreibt.
Otaku interessieren sich für geschlossene Systeme, für Bereiche, in denen man virtuell alles wissen kann. Sie mögen die Grenzen des von ihnen gewählten Systems ausloten, aber sie überschreiten sie nicht. Als hochmotivierte Spezialisten auf ihrem jeweiligen Gebiet können sie - z.B. als "Microsklaven" (Douglas Coupland) - zu idealen Arbeitskräften des Informationskapitalismus werden, allerdings sind sie gerade in die gruppenorientierten japanischen Arbeitsstrukturen schwer zu integrieren.
Ob ihre Insellösungen der Identitätsfrage erstrebenswert sind, mag dahingestellt sein. Der Otaku-Lebensstil wird uns ohne Frage erhalten bleiben. Eine schriftkulturell geprägte Generation mag ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Mitleid ansehen, doch als Strategie zur Bewältigung der sozialen und psychologischen Unsicherheiten unserer Zeit ist das Otakutum äußerst erfolgreich. Eine gelassene Gegenwartsdiagnose wird sich auf den Otaku als einen Mitmenschen einlassen.
Anmerkungen
1. vgl. auch Volker Grassmuck, "Allein aber nicht einsam" - die otaku-Generation. Zu einigen neueren Trends in der japanischen Populär- und Medienkultur. in: Norbert Bolz, Friedrich A. Kittler, Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, München Fink 1993, S.267-296
2. Sherry Turkle, Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, Simon & Schuster, New York, London, 1995, S. 13
3. Otaku, Eine Reportage von Jean-Jacques Beineix und Jackie Bastide, Journalist: Etienne Barral, Cargo Film, France, Sommer 1993
4. Volker Grassmuck, "Zum Verhältnis von Kunst und Technologie. Interview mit Asada Akira", in: Konkursbuch Japan II, Tübingen, S.59-72
5. yaoi steht für YAma-nashi, Ochi-nashi, Imi-nashi: keinen Höhepunkt, keine Pointe, keinen Sinn.
6. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin Verlag, Berlin 1998, S. 29
7. Ebd., S. 31
8. Keigo Okonogi, The Age of the Moratorium People, in: Japan Echo Vol. V, No. 1, 1978, S. 17-39
9. Howard Rheingold, The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier, Reading, Mass. etc. 1993, Addison-Wesley
10. Toshio Okada, otaku gaku nyumon (Einführung in die Otakuologie), Ohta Verlag, Tokyo 1996
11. Azuma in Krystian Woznicki, "Towards a Cartography of Japanese Anime. Anno Hideaki's 'Evangelion'. Interview with Azuma Hiroki", in: Blimp Filmmagazine Nr. 36/1997 und http://www.nettime.org/nettime.w3archive/199802/msg00101.html
12. in einem Gespräch mit dem Autor, Tokio, Oktober 1996
13. http://www.bud.com/98/07/tkles/23.misuba.geeks/
14. Johann Wolfgang Goethe, Der Sammler und die Seinigen, Verlag der Kunst, Dresden 1997, S. 13
15. Ebd., S. 121
16. auf den Hacker werde ich hier nicht näher eingehen, siehe dazu VG, "On the Typology of the Hacker in Japan", in: Klaus Peter Dencker (Hrsg.), Labile Ordnungen. Interface 3, Hans-Bredow-Institut, Hamburg, S.30-38
17. Johan Huizinga, Homo ludens. Proeven ener bepaling van het spelelment der cultuur, Groningen 1985
18. Chieizou (Schatz der Weisheit). Asahi Encyclopedia of Current Terms, Asahi Verlag, Tokyo 1990
19. Eine Gruppe junger Idol-Otaku in Beineix' Film beschreiben ihr Idol als eine Art Göttin (kamisama), als unberührbar, ihr eigenes Tun als einen Kult, eine Heldenverehrung (akogare). Wird die Freundin nicht eifersüchtig? Nein, das Idol stehe auch für Mädchen auf einem Podest, "als ob sie von einem anderen Planeten käme". Gewöhnliche Mädchen denken, daß die Idole aus einer fiktiven Welt sind, wie Romanfiguren, und deshalb akzeptieren sie sie, sehen in ihnen keine Konkurrentinnen um ihre Boy-Friends.
20. William Gibson, Idoru, Penguin, Viking, London, New York etc. 1996 (Dt.: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1997)
21. Ebd., S. 92
22. Ebd., S. 175
23. Holi Productions Inc., eine Schauspieler- und Musiker-Agentur, führt Kyoko neben rund hundert wirklichen Menschen in ihrer Kartei. S. www.dhw.co.jp/~horipro/talent/DK96/index.html. Gibsons Reaktion auf Kyoko: "When I downloaded my first picture of her and got it on the screen, the hair literally stood up on the back of my neck. I'm trying to do a Q&A with her for Details magazine." in einem Interview mit Scott Rosenberg in Salonmagazine, http://www.salon1999.com/weekly/gibson3961014.html
24. Interview des Autors, Oktober 1996
25. Gibson, op.cit., S. 228 f.
26. Toshio Okada, Bokutachi no sennô shakai, Asahi Shimbunsha, Tokio 1995
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